David Bunce beschreibt die Entwicklung unseres säkularen Zeitalters, die typische Reaktion der Kirche darauf und argumentiert für einen neuen Ansatz für die christliche Jugendarbeit im 21. Jahrhundert.

Renovieren als Hobby

Ich bin vor Kurzem umgezogen. In den letzten sechs Jahren habe ich in Wien gelebt und gearbeitet. Doch Ende 2020 wurde ich als Pastor in die Kleinstadt Bad Ischl berufen. Also packten wir unsere Sachen und zogen während einer Pandemie von einer pulsierenden internationalen Hauptstadt mitten in die österreichischen Alpen.

Der Umzug von einer Großstadt in eine ländliche Gegend fordert das Erlernen ganz neuer Lebensrhythmen. Wir können nicht mehr Takeaway-Essen aus tausend verschiedenen Restaurants bestellen, wenn wir Hunger haben. Wir mussten ein Auto kaufen. Was mich am meisten überraschte, ist die Tatsache, dass hier im Salzkammergut jeder liebend gerne sein Haus renoviert. Ernsthaft. Jeder in meiner neuen Gemeinde ist entweder am Bauen, am Renovieren, am Einreißen einer Wand oder am Installieren von Solarzellen.

Inzwischen habe ich versucht, mich etwas mehr mit dieser neuen Leidenschaft zu befassen. Dabei reichen meine eigenen Heimwerkerfähigkeiten kaum zum Aufhängen eines Bildes. Soweit ich das beurteilen kann, gibt es zwei Möglichkeiten, diese Aufgabe anzugehen. Für manche bedeutet eine Renovierung lediglich ein paar kosmetische Veränderungen vorzunehmen: Neu streichen, einen neuen Holzboden verlegen oder vielleicht die Küche umbauen. Für andere bedeutet eine Renovierung etwas viel Drastischeres: Komplett abreißen und von Grund auf neu bauen, weil die alte Struktur nicht mehr brauchbar ist.

Wir leben in einem säkularen Zeitalter

Während ich mich mit dem Thema Bauen und Renovieren beschäftigte, las ich Andrew Roots Faith Formation in a Secular Age (Glaubensbildung in einem weltlichen Zeitalter), und ich glaube, die Parallelen sind sehr hilfreich. Wenn Andrew mit einigen Leuten in meiner Gemeinde über sein Buch sprechen würde, würde er wahrscheinlich sagen, dass viele neue Denkansätze in der kirchlichen Jugendarbeit einer kosmetischen Veränderung gleichkommen. Als würde man versuchen, eine Wand neu zu streichen oder die ekelhafte Bakterienfalle von Teppichboden herauszureißen und durch etwas Hygienischeres (und meiner Ansicht nach schöneres) wie Holz zu ersetzen. Er würde wohl auch Folgendes sagen: Das Problem ist, dass wir oft nicht merken, dass die Bausubstanz nicht mehr gut ist. Die Sanitäranlagen wurden für ein Zeitalter gebaut, bevor jeder eine Waschmaschine, einen Geschirrspüler und eine moderne Dusche hatte. Die Elektrik ist nicht mehr sicher. Einige der tragenden Wände sind am Vermodern. Wenn Andrew in seinem Buch recht hat, dann würde er sagen: Ein neuer Anstrich reicht nicht mehr aus. Wir müssen uns überlegen, einiges abzureißen und neu aufzubauen, um den neuen Gegebenheiten gerecht zu werden.

Was meint Andrew Root also? Nun, um das zu verstehen, müssen wir uns ein wenig mit der Geschichte der westlichen Welt befassen und mit dem, was der kanadische Philosoph Charles Taylor Ein säkulares Zeitalter genannt hat. Für Taylor bedeutet »säkular« nicht einfach eine Welt ohne Religion, sondern mehr. Säkular bedeutet, alle Glaubenssysteme sind grundsätzlich anfechtbar und verhandelbar. Das Ziel ist nun, ein System von Überzeugungen zu finden, die für mich »authentisch« sind – mit denen ich mich subjektiv identifiziere. Ich könnte mich also wirklich leidenschaftlich als Christ identifizieren – und gleichzeitig könnte ich mich genauso leidenschaftlich für Tierrechte einsetzen, oder für die Bedeutung von ätherischem Kamillenöl auf meinem Kopfkissen oder dem Kampf gegen den Klimawandel. Das Wichtigste ist, dass ich ein System von Überzeugungen finde, zu dem ich mich bekennen kann, das authentisch »meins« und damit Teil meiner Identität ist.

Es wurden riesige Anstrengungen unternommen, um das Christentum zu »verkaufen«… als einen Lebensentwurf der »funktioniert« und der dir hilft, dein authentisches Selbst zu verkörpern.

Wie neu ist dieses Phänomen?

Um eine wirklich lange und komplizierte Geschichte kurz zu machen: Im Mittelalter konnten sich die Menschen ihre Glaubenssysteme nicht so aussuchen, wie wir es heute tun. Gott war einfach ein fester Bestandteil der Welt. Unsere Welt war das, was Taylor »verzaubert« nannte – voll von Gott und Dämonen und Engeln. Der Mensch war porös. Diese kosmischen Realitäten prägten unser Leben: Unsere Stimmung, ob wir eine gute Ernte hatten oder nicht, oder ob wir krank wurden.

Dies veränderte sich nach und nach. Die Aufklärung und der Aufstieg des individuellen Denkers spielten dabei ebenso eine Rolle wie verschiedene Bewegungen des 19. Jahrhunderts, die die Bedeutung von Emotionen und Gefühlen bei der Beurteilung der Wahrheit betonten. Unsere Identität als menschliche Wesen sickerte nicht mehr einfach aus der verzauberten Welt in uns hinein. Sie wurde zu etwas, das wir frei von äußeren Einflüssen für uns entdecken und erschaffen. Es wurde immer wichtiger, dass wir uns mit unseren Überzeugungen und unserer Identität wohlfühlen. Andrew Root nennt diese Idee »Jugendlichkeit«.

»Unsere Identität wurde zu etwas, das wir frei von äußeren Einflüssen für uns entdecken und erschaffen .«

Jugendlichkeit und der Aufstieg des authentischen Individuums

Die Notwendigkeit, die westliche Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufzubauen, führte zum Aufstieg einer neuen Art von Individuum: dem Konsumenten. Der Konsument musste überzeugt werden, nicht nur das zu kaufen, was er brauchte (z.B. ein Regal für sein Buch), sondern das, was er sich vielleicht wünscht oder was ihn erfüllen könnte (z.B. ein handgefertigtes Bücherregal aus wiederverwertetem Eichenholz mit kleinen pseudokünstlerischen Details an den Kanten). Nimmt man den Kontext des Kalten Krieges hinzu, dann vervollständigt Konsum nicht nur meine Identität, sondern ist ein Ausdruck meiner Identität: Ich konsumiere, weil ich Amerikaner/Brite/Westdeutscher bin und die Wirtschaft vor diesen bösen Sowjets in Sicherheit bringe.

Warum sind Donald Trump und Boris Johnson für viele Menschen so anziehend? Weil sie die ultimativen authentischen Individuen sind, die ihr eigenes Ding durchziehen und sich nicht darum kümmern, was alle anderen denken.

Gleichzeitig gab es eine Reaktion gegen die Konformität: Sich dem anzupassen, was alle anderen taten, war „unauthentisch“ und schwach. Nein, hier ging es darum, seine eigene Person zu werden, seine eigene Wahrheit zu schaffen. Darum ging es bei der sexuellen Revolution: Sex, Drogen und Rock’n’Roll waren Wege, um die wahre, authentische Person zu finden, die vom System unterdrückt wurde. Das gute Leben war das authentische Leben, nicht angekettet an die Regeln des Systems, sondern in Freiheit. Warum sind Donald Trump und Boris Johnson für viele Menschen so anziehend? Weil sie die ultimativen authentischen Individuen sind, die ihr eigenes Ding durchziehen und sich nicht darum kümmern, was alle anderen denken.

Ironischerweise sah Ersteres (die Nation der Konsumenten) Letzteres (das ungebändigte Selbst) und dachte: »Super! Das kann ich verkaufen«. Erinnerst du dich an das Bücherregal? Du brauchst dieses Bücherregal, weil du die Art von Mensch bist, die schöne, wiederaufbereitete Eiche zu schätzen weiß, im Gegensatz zu deinen Freunden, die sich mit ihren IKEA Billy-Bücherregalen der Masse anpassen.

Was hat das mit Jugendarbeit zu tun?

An dieser Stelle wunderst du dich vielleicht, was das alles mit Jugendarbeit zu tun hat. Andrew Root formuliert es so: In dieser Geschichte geht es größtenteils darum, dass wir uns über unsere Zugehörigkeit definieren und alles loswerden, was nicht als „authentisch“ gilt. Das hat die Christen nervös gemacht. Ein großes Thema in der Jugendarbeit war deshalb, wie junge Menschen davon abgehalten werden können, beim Versuch, authentisch zu werden, die Kirche zu verlassen. In anderen Worten: Wie können wir den christlichen Glauben robust oder »klebrig« genug machen, damit die Jugendlichen ihn hoffentlich nicht verwerfen, wenn sie durch die Krisen des jungen Erwachsenenalters gehen.

Wir versuchen, das Christentum als Produkt zu verkaufen in einer Welt, in der das authentische Individuum die einzige Realität ist und in der die Vorstellung von Gott nicht ernst genommen werden kann. Und selbst wenn sie ernst genommen wird, dann nur als Anhängsel bei meiner Suche nach meinem eigenen authentischen Lebenssinn.

Es wurde ein enormer Aufwand betrieben, um das Christentum zu »verkaufen« und »Influencer« zu rekrutieren, die andere dazu bringen, sich christlichen Organisationen oder einer Kirche anzuschließen. Im Grunde ist es ein Versuch, das Christsein als einen Lebensentwurf zu verkaufen, der »funktioniert«, der einem hilft, sein authentisches Selbst zu verkörpern. Wenn wir alle hart genug arbeiten und gut genug verkaufen und stark genug überzeugen, werden Jugendliche Jesus weiterhin einen Platz in dem System von Glaubensüberzeugungen geben, die sie für ihr authentisches Selbst wählen.

»Alles hängt von unseren Bemühungen ab. Wir vertrauen nicht mehr darauf, dass Jesus sich selbst erfahrbar macht.«

»Bitte verlasst uns nicht!«

Spürst du, wie viel Angst in diesem Prozess steckt, wenn wir ihn so sehen? Alles hängt von unseren Bemühungen ab, das Christentum zu verkaufen und es auf dem Markt der Ideen attraktiv zu machen. Wir vertrauen nicht mehr darauf, dass Jesus sich selbst erfahrbar macht. Stattdessen müssen wir die Arbeit selbst machen. Wir sagen unseren Jugendlichen, das Christentum ist plausibel. Es ist nachhaltig. Es ist verlässlich. Oder zumindest ist unsere Jugendarbeit unterhaltsam und macht Spaß. Bitte verlasst uns nicht. Bitte!

Andrew Root argumentiert, dass das Problem dabei nicht nur darin besteht, dass diese Herangehensweise enorm angstbesetzt und anstrengend ist. Das stimmt zwar, aber problematischer dabei ist, sie ist zum Scheitern verurteilt. Wir versuchen, das Christentum als ein Produkt zu verkaufen – »Kirche als Teil deiner Identität« in einer Welt zu verkaufen, in der das authentische Individuum die einzige Realität ist und in der die Vorstellung von Gott nicht ernst genommen werden kann. Selbst wenn sie ernst genommen wird, ist sie nur ein Anhängsel auf der Suche nach meinem eigenen authentischen Lebenssinn.

Um auf meine Hausrenovierung zurückzukommen: Wir versuchen, einen schicken neuen Ofen in eine umgebaute Küche einzubauen und bemerken dabei nicht, dass die Elektrik ihn nicht tragen kann und die Wand hinter dem Ofen morsch ist. Wir müssen also wieder hingehen und uns um die Verkabelung kümmern, die Wand in Ordnung bringen und vielleicht auch die Rohrleitungen überprüfen, wenn wir schon dabei sind.

Nun mag jetzt alles ein bisschen deprimierend klingen. Schließlich haben wir die besten Motive für unsere Jugendarbeit und Ideen, um Teenagern zu helfen, einen starken Glauben zu entwickeln. Wir wollen, dass Teenager Jesus kennenlernen. Wir wollen, dass sie Teil der Kirche sind. Wir wollen, dass sie einen authentischen Glauben haben. Und jetzt hören wir, dass diese Strategie zum Scheitern verurteilt ist? Autsch. Das tut weh.

Scheitern ist der Anfang der Freiheit

Andrew Root lässt uns aber nicht dort stehen. Stattdessen führt er uns zurück zu Jesus und zurück zur Bibel. Er erinnert uns daran, dass in der Welt der Bibel das Scheitern der Anfang der Freiheit ist – sowohl das eigene Scheitern, sein authentisches Selbst zu entdecken und zu erschaffen, als auch das Scheitern unserer Jugendarbeit im Wettbewerb auf einem überfüllten Markt. Schließlich dienen wir einem Gott, der nach den Worten von Römer 4 die Toten zum Leben erweckt und Dinge ins Leben ruft, die noch nicht existieren. Wenn wir unseren angstbesetzten Aktionismus stoppen, entdecken wir, dass Gott tatsächlich überraschend aktiv ist und dazu in der Lage ist, sich selbst bekannt zu machen.

Adrew Root fragt dann: Was könnte es bedeuten, dass Gott sich zu erkennen gibt? In der Bibel kommt der Glaube nicht dadurch, dass wir eine weitere Identität zu unserem bereits überfüllten »authentischen Selbst« hinzufügen. Stattdessen kommt sie durch die Erfahrung des Kreuzes, durch das Sich-selbst-Sterben und die Entdeckung, dass dies in der Tat zu neuem Leben führt. Was macht das möglich? Es ist die Erfahrung, sich in Jesus zu finden und seine Gegenwart zu erleben – nicht in den Erfolgsgeschichten des Lebens, den Dingen, die wir leicht vermarkten können, sondern in den Momenten unserer Schwäche und unseres Versagens.

Jesus kommt in unsere Gebrochenheit hinein und gibt uns nicht ein neues Identitätsmerkmal oder eine neue Strategie für ein authentisches Leben – er gibt uns sich selbst. Und seine Geschichte für uns wird die Geschichte, die wir für andere leben. Wir entdecken, dass seine Geschichte fesselnder ist als der Versuch, unserer eigenen Identität hinterherzujagen und unsere eigene Authentizität zu erschaffen Und es ist definitiv viel weniger anstrengend. Wir entdecken, dass wir in seine Lebensmuster mitaufgenommen sind.

Dankbarkeit erinnert uns daran, dass wir nicht kämpfen müssen, um unser authentisches Selbst zu schaffen, sondern dass wir es als Geschenk erhalten, lange bevor wir selbst etwas geben.

Oder, um auf unsere Haus-Metapher zurückzukommen: Das Fundament ist schlecht, also müssen wir das alte Haus abreißen. Dann bauen wir es wieder neu auf, mit Jesus als Bauplan und Baumeister.

Ein neues Fundament

Das Buch von Andrew Root soll nicht erschütternd oder entmutigend sein. Und es zielt nicht darauf ab, unsere Absichten infrage zu stellen. Er hilft uns zu verstehen, warum wir sind, wo wir sind, und zu sehen, wie einige der Annahmen, die unserer Jugendarbeit zugrunde liegen, uns vielleicht mehr schaden als helfen. Andrew hilft uns, diese alten Mauern einzureißen, den Müll wegzuräumen, zurück zum Fundament zu gelangen und etwas Neues zu bauen.

»Die Zukunft der Kirche hängt nicht von ihrer Jugendlichkeit ab.«

Er lädt dazu ein, gelassen zu sein, nicht aus der ständigen Angst heraus zu handeln, dass die nächste Generation verloren ist, wenn ich als Jugendleiter:in nicht unterhaltsam genug oder relevant genug oder kompetent genug bin. Stattdessen lädt er uns ein, auf Jesus, den wahren Jugendleiter, zu vertrauen. Und seien wir ehrlich – Jesus kann das viel besser als wir. Andrew ermutigt uns als Jugendleiter:in, unseren Jugendlichen zu helfen, auf die Dynamik göttlicher Gegenwart zu achten: Die Aufforderung, unseren Nächsten zu lieben, den Menschen um uns herum zu dienen, Geschichten von Jesu Auferstehungskraft in unseren Momenten von Tod und Scheitern zu erzählen. Und zu geistlichen Disziplinen wie der Dankbarkeit zurückzukehren, die uns daran erinnert, dass wir nicht kämpfen müssen, um unser authentisches Selbst zu schaffen, sondern dass wir es als Geschenk erhalten, lange bevor wir selbst etwas geben.

Es ist auch eine Einladung zur Ruhe. Denn die Zukunft der Kirche hängt nicht von ihrer Jugendlichkeit ab oder von unserer Fähigkeit, die nächste Generation in die Kirche zu bekommen, wie Dietrich Bonhoeffer sagte und wie Andrew Root uns daran erinnert. Im Gegenteil: Die Zukunft der Kirche ist Jesus Christus, der ewig lebt und regiert. Und so können wir unseren Teil der Arbeit auf der Baustelle erledigen – wir können diese Balken montieren und jene Verkleidung in Ordnung bringen – und dann können wir am Ende des Tages aufhören und einen Tag freinehmen, weil Jesus, der Jugendleiter, immer noch arbeitet.

Dieser Artikel wurde von David Bunce verfasst und zuerst von Youthscape veröffentlicht. Deutsche Version von Olivia Felber.

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