Um was geht es?

»Was ist passiert, dass die mentale Gesundheit der GenZ, global und beginnend etwa 2012, drastisch schlechter wurde?«

Dieser Frage geht Jonathan Haidt, ein renommierter New Yorker Professor für Sozialpsychologie in dem Bestseller »Generation Angst« nach.

»Es geht nicht nur um Smartphones und soziale Medien, sondern um eine historische und beispiellose Transformation der menschlichen Kindheit.« (S. 27)

Haidt evaluiert in dem Buch Erklärungsversuche für die Verschlechterung der mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und gründet seine Forschung in verschiedenen Meta-Studien und in der Entwicklungspsychologie bzw. -biologie.

In einem Satz

Der Wandel von einer spielbasierten zu einer smartphonebasierten Kindheit, verhindert laut Jonathan Haidt eine gesunde Entwicklung von Heranwachsenden, führt zu einer ängstlichen Generation und bedingt den Zuwachs an psychischen Erkrankungen der Gen Z.

Die spannendsten Zahlen

40h pro Woche – so lange verbringt ein Jugendlicher aktuell am Smartphone, quasi ein Vollzeitjob. Und etwa alle 5 Minuten kommt eine Benachrichtigung einer Kommunikationsapp. Wenn man alle Apps einbezieht, kommt eine aufmerksamkeitsbrechende Benachrichtigung pro Minute. (S. 163)

Die Neuverdrahtung der Kindheit

Haidt sieht im Siegeszug vom portablem Breitbandinternet, vor allem in Form von Smartphones, eine »Neuverdrahtung der Kindheit« (S.63): eine Verschiebung der Kindheit aus der physischen Welt, in die digitale.

Bestärkt wurde diese Dynamik von einem gesellschaftlichen »Safetyism« (überhöhter Sicherheitsdrang): Kinder wurden in der physischen Welt überbehütet, um sie vor allen möglichen Risiken zu schützen. Die Konsequenz war Schaden, statt Schutz. Sie verloren ihre Freiheit, sowie Möglichkeiten durch risikoreiches Spiel in der echten Welt sich zu entwickeln, denn sie brauchen freies Spiel mit der Gefahr sich zu verletzen, um zu lernen sich nicht zu verletzen (S. 70f). Ihr Leben verschob sich immer weiter in die digitale Welt, in der sie paradoxerweise unter‐behütet blieben und Inhalten ausgesetzt wurden, die ihrem Alter nicht angemessen sind (S. 90).

Das Problem der digitalen Welt besteht darin, dass sie ganz anders funktioniert als die physische Welt: Interaktionen passieren asynchron, statt synchron (mit der Ausnahme von Videotelefonie) und körperlos, statt verkörpert. Eine Gruppenzugehörigkeit kann im Gegensatz zur physischen Welt schnell erworben werden und ist mit geringer persönlicher Investition verbunden, dazu passiert Kommunikation vermehrt mit vielen, anstatt mit einzelnen (S.21). Das kindliche Hirn braucht für seine Entwicklung aber nicht nur reale, physisch-soziale Interaktion, sondern erwartet sie auch. So führte der Wandel von einer spielbasierten zu einer smartphonebasierten Kindheit zu einer Generation, die grundlegend anders aufwuchs, wie alle Generationen vor ihr.

Download: Zusammenfassung der Studie »Generation Angst«

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Verteidigungsmodus anstelle von Entdeckermodus

Statt durch die Welt standardmäßig im »Entdecker-Modus« zu gehen, der die Interaktion mit der Welt als Lernmöglichkeit wahrnimmt und eine »Antifragilität« (durch wiederkehrendes Umstoßen entwickelte Standhaftigkeit) entwickeln lässt (S.98ff), verbringen mehr und mehr Kinder ihr Leben in einem »Verteidigungsmodus«. In diesem wird die reale Welt als Gefahr wahrgenommen und bestehende, teils kindliche Ängste werden verstärkt. Statt durch eine gesunde Abwechslung von Entdecker- und Verteidigungsmodus Schutz- und Bewältigungsstrategien zu erlernen, fliehen viele in die digitale Welt.

»Es ist als gäben wir unseren Kleinkindern Tablets mit Filmen übers Laufen, doch diese Filme sind so fesselnd, dass sich die Kids nie die Zeit nehmen oder die Mühe machen, tatsächlich Laufen zu lernen.« (S.73)

Digitale Welt als Erfahrungsblocker

Aufgrund fehlender physischer Risiken, herrscht im digitalen Raum die Illusion einer Verletzungsfreiheit. Damit dienen Smartphones nicht nur als Erfahrungsblocker für die reale Welt. Sie öffnen auch die Tür für subtile, oft nachhaltige Schäden, die der übermäßige Konsum hoch-emotionalisierter Inhalte, in Kombination mit einer noch nicht fertig ausgebildeten Impulskontrolle, anrichten können. Das Resultat zeigt sich in zahlreichen Studien zu drastisch gestiegenen psychischen Krankheiten und Suizidalität.

Jungs und Mädchen sind unterschiedlich gefährdet

Interessanterweise reagieren Jungs und Mädchen sehr unterschiedlich darauf. Mädchen leiden unter einer smartphonebasierten Kindheit meist stärker, da sie durchschnittlich mehr Zeit in sozialen Medien verbringen, wo sie mit visuell-sozialen Vergleichen und Perfektionismus konfrontiert werden, Gefühle und Störungen von anderen Mädchen vermehrt übernehmen und beziehungsorientierte Aggression, wie auch sexuelle Nachstellung erfahren (S.194-212). Jungs hingegen verbringen mehr Zeit mit Videospielen und Pornographie. Sie verschieben ihre Bedürfnisstillung vermehrt in die digitale Welt und entfremden sich dadurch zunehmend von der physischen Welt. Aber auch sie leiden zunehmend an psychischen Erkrankungen.

Smartphonebasiertes Leben führt zu spiritueller Abstumpfung

Spannenderweise ruft Haidt, bekennender Atheist, nicht nur nach einer stärkeren Beschränkung der digitalen Welt, sondern auch nach mehr gelebter Spiritualität, sozusagen als Gegengift für die von ihm beobachteten Probleme. Er beschreibt, wie Spiritualität unter der smartphonebasierten Kindheit leidet. Wo aber eine verkörperte, sinnstiftende Gemeinschaft erlebt wird, die ermöglicht, über das Individuum hinaus zu denken und die Heiligkeit und Ehrfurcht erfahrbar macht (er verwendet stark christliches Vokabular in diesem Kapitel), da können die negativen Aspekte einer smartphonebasierten Kindheit kompensiert werden (S. 249-272).

»Das smartphonebasierte Leben erzeugt eine spirituelle Degradierung, nicht nur bei Heranwachsenden, sondern bei uns allen.« (S. 249)

Vom Wissen zum Tun

Jonathan Haidt geht im letzten Teil seines Buches auf die Verantwortung der gesamten Gesellschaft (Kap 9), der Regierungen und Tech-Unternehmen (Kap.10), der Schulen (Kap. 11) und Eltern (Kap. 12) ein.

Bedeutung der Beobachtungen für die Praxis

Präventiv

  • Smartphone-freie Gruppenstunden: Für den internen »Betrieb«, kann Kinder- und Jugendarbeit schon bei kleinen Kindern anfangen (möglichst) smartphonefreie Gruppen zu gestalten, sodass diese Dynamik für die Kinder normal wird. Zum einen erleben sie so spielbasierte Momente in einer smartphone-basierten Kultur, zum anderen wird es im Idealfall zu einer Dynamik, die sich ins Jugendalter weiterträgt. Wobei das nur funktionieren kann, wenn auch die Mitarbeiter sich an gleiche Regeln halten und so als Vorbilder dienen.
  • Kirche als »Playboorhood«: Haidt beschreibt, wie Kinder in der Vergangenheit, statt im Internet zu surfen in der Nachbarschaft mit anderen Kindern spielten. Da amerikanische Gegenden aber meist nicht mehr kinderfreundlich gestaltet werden, appelliert er sogenannte »Playboorhoods« ins Leben zu rufen (englisches Wortspiel aus »play« dt. spielen und »neighboorhood« dt. Nachbarschaft). Orte, wie private Gärten, wo Kinder ohne Intervention von Erwachsenen frei spielen können, gleichzeitig aber auch von einzelnen Erwachsenen beaufsichtigt werden, um die Eltern anderer Kinder zu beruhigen und im Notfall einzugreifen. Kirchen können sich dafür ideal eignen. Häufig haben diese bereits die räumlichen und materiellen Ressourcen, damit Kindern sich austoben und gemeinsam spielen können. So kann eine Art offene Kinder- und Jugendarbeit stattfinden, die dann z.B. in geplante Gruppenaktivitäten überleiten kann.
  • Eltern treffen gemeinsame Absprachen: Haidt beschreibt, dass der Umgang mit Smartphones ein Problem kollektiven Handelns ist. Ein Problem, dass nur gelöst werden kann, wenn gemeinsam gehandelt wird. Wenn es nur einzelne machen, leiden die Kinder und werden zu sozialen Außenseitern. Hier bietet Kinder- und Jugendarbeit die Möglichkeit, die Eltern über die Dynamiken einer smartphonebasierten Kindheit aufzuklären und zu einer kollektiven Einigung zu kommen, ab welchem Alter sie ihren Kindern Smartphones (mit Internetzugang) erlauben. Damit sind es nicht nur einzelne Kinder, sondern ganze Gruppen und Freundeskreise, sodass (im Idealfall) sich keiner als sozialer Außenseiter wahrnimmt. Gleichzeitig gibt das der Kirche eine Chance, auf gesunde Weise kontrakulturell zu handeln und auch damit gewinnend zu wirken.

Pro-aktiv

Pro-aktive Umsetzung bezieht sich vor allem auf Jugendliche (aber auch Kinder), die schon eine smartphonebasierte Kindheit durch- und erlebt haben, wodurch sich eine erfolgreiche Umsetzung deutlich schwieriger gestalten wird.

  • Synchrone, verkörperte Aktivität: Während in der Online-Welt vor allem asynchrone und körperlose Kommunikation passiert, können Gruppen hier entgegenwirken, indem sie bewusst synchrone und verkörperte Interaktionen einplanen, die Gemeinschaft und Bedeutung stiften. Z. B. Spiele, die Jugendliche auch körperlich mit teilweise synchronen Bewegungen involvieren oder besonders bei jüngeren Kindern, Lieder mit Bewegungen.
  • Gesprächs- und Reflexionsmöglichkeiten: Gleichzeitig können Gesprächsmöglichkeiten geschaffen werden, die zum einen die Beobachtungen von Haidt reflektieren und das Erleben der Jugendlichen miteinbeziehen, um mit ihnen gesunde Umgangsweisen zu finden. Darüber hinaus ermöglicht das die Masse an Inhalten, die durch »Doom-scrolling« von den Jugendlichen aufgenommen wird, zu reflektieren anstatt, dass sie resonanz- und kritiklos in sie hineingepumpt wird und so in ihnen Schaden anrichten kann.
  • Gemeinsame Verpflichtung: Letztlich kann mit Kindern- und Jugendlichen, die bereits eine smartphonebasierte Kindheit erlebt haben, eine Art »community covenant« (dt. gemeinschaftliche Selbstverpflichtung) geschlossen werden, in der alle (auch die Mitarbeiter!) unterschreiben zumindest für die Zeit der Jugendgruppe auf die Handynutzung zu verzichten, wenn diese nicht bewusst in das Programm eingebunden ist.
Hg. von Youth Inside | www.youthinside.de | Teil des Praxisinstitut Gemeindeaufbau und Gemeindeentwicklung e.V. | c/o Freie Theologische Hochschule Gießen z. Hd. Prof. Dr. Philipp Bartholomä | Rathenaustr. 5-7 | 35394 Gießen
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