Uns geht’s gut!?

Uns geht’s ja eigentlich unverschämt gut: unglaublich gut sogar. Also, wenn nicht gerade Corona ist natürlich. Aber dann, dann gehts uns super. Dann gibt es immer, wirklich immer genug Essen und Klopapier im Supermarkt. Alles in Topqualität und großer Auswahl. Dann können wir uns wann immer wir wollen, wo immer wir wollen mit Familien, Freunden, Jugendgruppe o.ä. treffen. Wir dürfen Konzerte besuchen, ins Theater gehen, Demos veranstalten und Gottesdienste feiern. Einfach so, ganz frei und selbstverständlich. Wir dürfen reisen und die Welt sehen – uns dort aufhalten, wo wir möchten. Wir können ein Gesundheitssystem in Anspruch nehmen, das zu den besten auf der Welt zählt …

Uns geht es super gut. Das, was wir jetzt als große Einschränkungen erleben, ist für weite Teile der Welt alltägliche Normalität. Viele Menschen auf der Welt hätten gerne unsere Sorgen und Ängste.

Weil wir in Europa, in Deutschland eine tolle Gemeinschaft verschiedenster Menschen sind, die sich dafür einsetzen, dass es allen gut geht. Klar gibt es auch bei uns Defizite und Luft nach oben – keine Frage. Aber insgesamt können wir sooooooooo dankbar sein für die ganzen Ärztinnen und Pfleger, Müllfrauen und Bäcker, Supermarktkassiererinnen und Altenpfleger, Journalistinnen und Politiker, Pfarrerinnen und Sozialarbeiter, Musikerinnen und Schauspieler, Jugendleiterinnen und Kindermitarbeiter und und und! Und, dass die allermeisten von ihnen sich von einem geradezu unterirdischen Lohn nicht abhalten lassen. Alles Helden!

Wir wollen’s locker: Seit Kurzem sind wir in der komfortablen Lage, dass wir sogar über Lockerungen vom Lockdown diskutieren können. In anderen Ländern ist daran noch nicht einmal zu denken. Also eigentlich alles gut und auf dem richtigen Weg!? Nein finde ich nicht. Aber mal so überhaupt nicht. Mich regt an dieser Diskussion einiges ganz furchtbar auf.

Falsche Prioritäten

Wir haben ja genug Corona-Tests: Da will vor allem die Bundesliga wieder an den Start, weil die armen Vereine ja auch Wirtschaftsbetriebe sind und sonst finanzielle Schwierigkeiten bekommen. Dass für das Hygienekonzept tausende von Corona-Tests nötig wären, die anderswo fehlen könnten (sind ja jetzt nicht gerade üppig vorhanden diese Tests), dass man berechtigte Sorge haben kann, dass sich selbst bei Geisterspielen Fans in Wohnzimmern oder vor den Stadien treffen werden (und das wohl eher ohne Sicherheitsabstand und Gesichtsmaske).

Gleichzeitig sollen die Schulen wieder öffnen, aber Lehrer natürlich nicht auf Corona getestet werden. Auch Ärztinnen und Pfleger arbeiten schon die ganze Zeit, ohne getestet zu werden – außerdem oft ohne ausreichend Schutzkleidung.

Reicht es den Herren Fußballprofis etwa nicht, dass man für sie vom Balkon klatscht, wie für die mies bezahlten und überarbeiteten Menschen im Gesundheitssystem?

Ist doch nur Geld: Da wollen immer mehr große Konzerne von Staatshilfen profitieren und haben gleichzeitig vor, ihren Aktionären Dividenden auszuschütten und den Managern fette Boni zu zahlen. Ganz zu schweigen davon, dass fast alle DAX-Konzerne auch eine ganze Reihe lustiger Tochterfirmen in Steueroasen haben und es damit vermeiden angemessen Steuern zu zahlen.

Den vorgeschlagenen Bonus von 1500 € für Pflegekräfte wird es dagegen nicht geben, weil die Krankenkassen so was nicht zahlen wollen. Verkäuferinnen sind mit Müh‘ und Not einer Sonntagsöffnung der Supermärkte entgangen, damit sie überhaupt noch mal etwas ausspannen können.

Nicht zu vergessen, Äußerungen von »Politikern« wie Boris Palmer, die die Gewinne der Wirtschaft so wichtig findet, dass man dafür gerne auch mal ein paar Alte und Kranke sterben lassen kann – so what? Der Firnis der Zivilisation ist dünn… Leider.

Und die Familien? Wie Alleinerziehende mit Homeoffice, Kindern zu Hause etc. klarkommen, interessiert scheinbar kaum jemanden. Wie es Kindern und Jugendlichen ohne ihre Freunde, Kindergarten/Schule, fehlender Jungschar, Sportverein und Musikunterricht, mit gestressten Eltern, Lehrerinnen für die das Internet vielfach wirklich Neuland zu sein scheint und teilweise auch Existenzängsten in der Familie zu Hause geht, ist ebenfalls eher selten Bestandteil der gesellschaftlichen Diskussion.

Andersherum: Wenn jetzt Schulen wieder öffnen sollen, die ein Wahnsinns-Hygienekonzept brauchen, aber nur noch zwei funktionierende Waschbecken mit Kaltwasser haben… Wie das funktionieren soll, weiß auch keiner.

Ich könnte noch lange so weitermachen … aber ich hab‘ jetzt schon SO NEN HALS! Wir setzten die falschen Prioritäten.

Aber – ist das ein Corona-Problem?

Ich fürchte nicht – und das macht es noch schlimmer, finde ich. Schon vor Corona waren Krankenschwestern mies bezahlt und überarbeitet. Verkäufer und Brummifahrerinnen waren auch vorher schon nicht gut angesehen und noch schlechter bezahlt. Schon vor Corona haben viele Konzerne alle Tricks genutzt, um ja fast keine Steuern zahlen zu müssen, war Fußball oft reiner Kommerz und in den Managementetagen eng verbunden mit Kungelei und Korruption. Schon vor Corona wurden die Schulen und Krankenhäuser fast kaputt gespart. Wie Alleinerziehende klarkommen, war auch kein Thema. Schon vor Corona hatten wir Neoliberalismus, der im Zweifel lieber Menschen opfert, als Gewinn. Schon vorher ging es immer nur darum, dass alles schneller, effizienter, billiger werden muss – und wenig um die Menschen.

Schon vor Corona gab es Helden, die keiner als Helden gesehen und behandelt hat …

Die Coronakrise macht nur deutlich, was vorher auch schon im Argen lag. Aber dass gerade in dieser Krise, in der Menschen ihren Job verlieren, besonders einsam oder überfordert sind und wir alle gemeinsam nicht wissen, wie die Zukunft wird, die Menschen wieder so deutlich hinter Wirtschaft, Gewinn und dem »immer-mehr-und-immer-schneller« stehen müssen, macht mich tierisch wütend!

Ihr seid Helden!

Und du? Mitarbeitende in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen stehen aktuell auch nicht gerade im Fokus. Dabei bist du ein Held! Du bist so was von systemrelevant! Mitarbeiter in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sind meine Helden!

Denn wo sonst als in Kinder- und Jugendgruppen kann man Teamgeist, Verantwortungsgefühl, Gewinnen und Verlieren, Geduld und und und lernen? Wo sonst als in Kinder- und Jugendangeboten kann man lernen, dass »schneller, höher, weiter« nicht immer das Beste ist? Dass alle Menschen wichtig und wertvoll sind? Dass Vielfalt gut ist, Eigentum verpflichtet und wir nur gemeinsam eine lebenswerte Welt gestalten und erhalten können. Dass es unser Job ist, ein gutes Leben zu leben – gut für uns und alle um uns herum? Und dass alle, die dies tun, unseren Respekt verdienen?

Du als Mitarbeiter in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bist unglaublich wichtig für diese Gesellschaft! Ohne Helden wie dich würde es ganz schön bergab gehen mit uns.

Danke, dass du dich in Kinder, Teens und Jugendliche investierst! Danke, dass du in dieser Krise nicht nachlässt, sondern kreativ wirst und weiter irgendwie für deine Kids da bist! Das macht einen echt großen Unterschied für so viele.

Können wir noch mehr? Gleichzeitig lässt mich die Frage nicht los, ob wir insgesamt nicht noch mehr tun könnten/sollten/dürften/müssten … so viele Kinder, Teens und Jugendliche besuchen unsere Angebote. Vom Bäcker bis zu Ärztin, von der Kosmetikerin bis zum Investmentbanker, vom Müllmann bis zum Bürgermeister – wir haben sie doch (fast) alle bei uns. Was können wir also demnächst noch besser machen, damit aus den Teilnehmerinnen unserer Angebote Erwachsene werden, die wissen, dass wir eine menschenfreundliche Gesellschaft brauchen und daran mitarbeiten diese ins Leben zu bringen? Die wissen, dass Schulen nicht zu verfallenen Baracken verkommen dürfen, ohne Internetanschluss und Perspektive auf Besserung. Die wissen, dass Krankenhäuser und Altenpflegeheime keinen Gewinn abwerfen müssen. Die sehen, dass wir eine intakte Umwelt brauchen, Menschen angemessen bezahlt werden sollten, Alte in Ehre zu halten sind, und Kinder/Jugendliche Gegenwart und Zukunft unserer Welt sind … und die entsprechend handeln und leben!

Ideen gesucht: Bist du dabei? Zu überlegen, wie wir da noch besser werden können? Noch heldenhafter? Sich auszutauschen welche tollen Ideen und Aktionen es schon gibt? Über eure eigenen Erfahrungen zu hören: was hat euch geholfen ein »guter Mensch« zu werden, in den Angeboten, die ihr früher besucht habt? Was ist generell eure Vision von einer durch und durch menschenfreundlichen Gesellschaft und eurer Gruppe darin?

Ich freue mich auf regen Austausch und viel Praxis dazu!

»Wenn Aufregung helfen würde, würde ich mich aufregen.« hat Angela Merkel vor Kurzem gesagt. Recht hat sie. Eigentlich. Aber manchmal kann ich nicht anders – heute hat’s sogar gutgetan 🙂

Dein Heiko

PS: Ich weiß, das Obige ist teilweise polemisch, etwas übertrieben oder einseitig … und du darfst das natürlich auch alles ganz anders sehen. Wenn dem so ist, freue ich mich auf eine Diskussion mit dir!

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