Das Spannungsfeld: Programm vs. Beziehung

1. Programme können die Leidenschaft für Gott ersetzen
Die Christen des Neuen Testaments bezeugten ihren Glauben ganz natürlich und kamen regelmäßig mit anderen Gläubigen zur Anbetung zusammen. Ihre Herzen waren so erfüllt von der realen Gegenwart Christi, dass sie keine großen Aufforderungen brauchten, um ihren Glauben auch nach außen zu leben.

Könnte es sein, dass viele von uns ihre Leidenschaft für Gott verloren haben und nur noch Gemeinde machen, statt Gemeinde zu sein?

Wenn wir unsere erste Liebe wiederentdecken, uns neu in Gott verlieben, könnten wir etwas von der Freude und Begeisterung zurückgewinnen, die wir beim ersten Schritt mit Jesus verspürt haben. Wir müssen aufhören, uns hinter Aktivitäten zu verstecken, und stattdessen danach streben, Gott zu begegnen und aus der Fülle dieser Beziehung heraus zu leben und zu dienen.

2. Programme werden fälschlicherweise eingesetzt
In vielen Gemeinden sind Programme zur Hauptstrategie geworden, um geistliches Leben zu fördern und Christen zu helfen, Nachfolger Jesu zu werden. Es gibt Kurse, Seminare und Trainings zu jedem Thema. Aber wenn wir ehrlich sind, müssen wir vielleicht zugeben, dass diese Angebote nicht so wirkungsvoll sind, wie wir hoffen. Das neueste Evangelisationstraining scheint keine Christen hervorzubringen, die Evangelisation als Lebensstil leben. Haben wir vielleicht alles auf den Kopf gestellt?

Wenn wir Menschen helfen würden, Gott zu begegnen und ihr Herz für das zu gewinnen, was ihn bewegt, dann würden sie anfangen, einen neuen, echten christlichen Lebensstil zu leben.

Dann würden sie nicht mehr Programme als Lebensersatz brauchen, sondern aus vollem Herzen dienen – keine »Seminar-Junkies«, die immer wieder kommen, aber sich nie ändern.

3. Programme können persönliche Jüngerschaft behindern
Wenn es für alles ein Programm gibt, kann das leicht dazu führen, dass sich Menschen zurücklehnen: »Für Evangelisation ist doch das Evangelisationsteam zuständig.« Natürlich hat nicht jeder dieselbe Gabe und wir haben unterschiedliche Aufgaben im Missionsbefehl. Aber genau die Programme, die Menschen mobilisieren sollen, können dazu führen, dass sie sich als passive Zuschauer zurücklehnen. Und die wenigen, die Programme leiten, laufen Gefahr, auszubrennen – weil sie ständig neue Programme starten und aufrechterhalten müssen. Am Ende fehlt uns die Leidenschaft für Gott, und wir können anderen nicht mehr helfen, ihm zu begegnen.

4. Programme sollten den Prozess unterstützen
Programme werden oft als Abkürzung zum Erfolg gesehen. »Wenn wir den Alphakurs in unserer Gemeinde etablieren, brauchen wir uns um Evangelisation keine Sorgen mehr zu machen.« Diese Denkweise lässt uns vergessen, dass geistliches Wachstum ein langfristiger Prozess ist. Veranstaltungen und Programme sollen diesen Prozess unterstützen, nicht ersetzen oder verkürzen. Menschen sollen erleben: Während sie den Missionsbefehl leben, bietet die Gemeinde von Zeit zu Zeit Schulungen oder Events an, die sie dabei unterstützen. Wenn die Verantwortung für Jüngerschaft und Evangelisation auf allen Schultern der Gemeinde liegt – nicht nur bei den Hauptamtlichen oder »Profis« – dann können Programme Teil eines gesunden Prozesses sein.

5. Programme sollten ein Verfallsdatum haben
Jedes Programm braucht ein klares Ziel und sollte dazu dienen, Menschen zu befähigen – nicht den Dienst für sie zu übernehmen. Zur Zielplanung gehört auch ein zeitlicher Rahmen: Wie lange soll dieses Programm laufen? Leider beenden wir in der Gemeinde selten Programme. Viele laufen noch weiter, obwohl sie längst ihre Wirkung verloren haben. Vielleicht brauchen wir ein »Verfallsdatum« für jedes Programm – wie eine Milchtüte – damit wir wissen: Sie sind nicht für die Ewigkeit gemacht. Es braucht Mut, Programme zu beenden, aber besser frühzeitig stoppen als zu spät – bevor keiner mehr kommt und keiner mehr profitiert.

6. Programme sollten Räume schaffen, in denen Menschen Gott begegnen
Es geht nicht darum, Veranstaltungen durchzuführen – sondern Erlebnisse mit Gott zu ermöglichen. Viele Christen sind skeptisch, wenn es um »Erfahrungen« geht. Aber wenn wir keine Programme entwickeln, in denen Menschen Gottes Gegenwart und echte Gemeinschaft erleben, werden sie niemals den bleibenden Einfluss haben, den wir uns wünschen.

Die erste Gemeinde begegnete Gott so intensiv in ihrer gemeinsamen Anbetung, dass selbst Ungläubige davon ergriffen wurden und erkannten: »Gott ist wirklich unter euch!« (vgl. 1. Kor 14,25).

Als Lobpreisleiter frage ich mich oft: Wie kann ich einen Raum schaffen, in dem Menschen Gott begegnen – und nicht nur über ihn reden und singen? Auch wenn ich Gott nicht zwingen kann, »bei meinem Programm aufzutauchen«, will er sich doch unter seinem Volk offenbaren. Solange Ungläubige in unseren Gottesdiensten nicht wirklich Gott begegnen, werden sie leer und unberührt wieder gehen.

Also: Alles stoppen und nur noch Beziehungen leben?
Ganz so einfach ist es nicht. Wir brauchen keine Entweder-oder-Lösungen, sondern eine ehrliche Auseinandersetzung. Programme sind nicht per se falsch – aber sie dürfen nie zum Selbstzweck werden. Die Basis muss immer eine lebendige Beziehung zu Gott sein. Wenn wir Jesus mit den Verlorenen teilen, weil wir uns leidenschaftlich wünschen, dass sie eine Beziehung zum Vater finden – dann braucht uns niemand dazu antreiben. Wenn wir geistliche Gewohnheiten leben, die uns Gott erleben lassen, wollen wir sie automatisch mit anderen teilen. Alles, was wir tun, muss darauf abzielen, Menschen zu helfen, ihren Glauben im Alltag authentisch zu leben. Evangelisation und geistliche Begleitung gehören in die Hände aller Gläubigen. Als Leiter sind wir berufen, andere zu befähigen. Doch viel zu oft tragen wir die Last alleine. Möge Gott uns zeigen, wie wir ein gutes Gleichgewicht zwischen Beziehung und Programm finden.

Auf dem Weg zu einer beziehungsorientierten Jugendarbeit

Ein starker Impuls kam für mich durch Ron Hutchcraft – ein US-Jugendexperte, der vor einigen Jahren in Südafrika war. Er lebt Jugendarbeit ganz bewusst aus dem Beziehungsansatz, der seine gesamte Philosophie und Strategie durchzieht. Ron sagt: Das Herzstück von Jugendarbeit sind Beziehungen. Jugendliche sehnen sich mehr nach Beziehung als nach allem anderen. Deshalb ist das Wichtigste, echte Beziehungen zu Jugendlichen aufzubauen – besonders zu denen, die nie eine Kirche betreten würden. Sie lernen Jesus eher durch Beziehungen kennen und brauchen persönliche Begleitung, auch nachdem sie sich entschieden haben. Hier sind die wichtigsten Punkte:

1. Jugendliche verstehen – aus Beziehungsperspektive
Ron beschreibt die junge Generation so:

  1. Beziehungen sind das Wichtigste
  2. Akzeptanz ist der entscheidende Faktor
  3. Schmerz ist der stärkste Antrieb
  4. Wut nimmt zu
  5. Härte entwickelt sich früh
  6. Musik hat riesige Bedeutung
  7. Wahrheit ist relativ
  8. Es gibt keine Grenzen
  9. Sie suchen Autorität
  10. Das »Hier und Jetzt« ist wichtiger als die Zukunft
  11. Sex wird erwartet
  12. Sie sind spirituell-suchend

2. Jugendliche beziehungsorientiert ansprechen
Bevor wir das Evangelium weitergeben, sollten wir echte Beziehungen zu Jugendlichen aufbauen. Ron nennt dafür zehn konkrete Schritte:

  1. Folge dem Vorbild von Jesus (Beziehungen vor Programm)
  2. Ergreife die Initiative – warte nicht, bis die Jugendlichen auf dich zukommen – geht auf sie zu und beginne eine Freundschaft
  3. Zeig echtes Interesse an ihren Themen
  4. Hör mehr zu, als dass du von dir redest
  5. Ermutige sie – Jugendliche brauchen Anerkennung
  6. Diene ihnen praktisch – finde Wege, ihnen bei ihren Interessen zu helfen
  7. Lerne von ihnen – lass dir etwas beibringen (du als »Schüler«, sie als »Lehrer«)
  8. Zeig ihnen, dass du an sie glaubst
  9. Fordere sie heraus, ihr Potenzial zu nutzen
  10. Enttäusche sie nicht – versprich nichts, was du nicht halten kannst

3. Jugendliche beziehungsorientiert evangelisieren
Wenn Jugendliche sich öffnen und das Evangelium hören wollen, erzähle das Evangelium beziehungsbezogen. Viele Präsentationen beinhalten die Fakten des Evangeliums – Ron aber entwickelt eine Beziehungsperspektive:

  1. Es gibt eine Beziehung, die du haben sollst – Kolosser 1,16 (Gott hat dich für eine Beziehung mit ihm geschaffen)
  2. Diese Beziehung hast du nicht – Jesaja 59,2; Römer 6,23 (Sünde hat dich von dieser Beziehung getrennt)
  3. Du kannst diese Beziehung haben – 1. Petrus 3,18; Epheser 2,9 (Jesus hat durch seinen Tod am Kreuz alles bereitgestellt, was du für eine Beziehung mit Gott brauchst)
  4. Du musst dich entscheiden – Johannes 3,16 (Du bist nicht automatisch in einer Beziehung, solange du nicht annimmst, was Jesus am Kreuz für dich getan hat)

4. Jugendliche beziehungsorientiert begleiten
Auch in der Nacharbeit bleibt die Beziehung zentral. Wachstum geschieht nicht durch Wissensvermittlung, sondern durch Beziehung:

  1. Gottes Wort verstehen lernen: Jugendliche müssen lernen, wie sie durch sein Wort eine Beziehung zu Gott aufbauen können.
  2. Mit Gott reden: Jugendliche müssen lernen, wie sie durch das Gebet mit Gott kommunizieren können.
  3. Mit Gottes Freunden in Gemeinschaft leben: Jugendliche müssen verstehen, wie wertvoll es ist, sich mit anderen Gläubigen zu treffen und ihre geistlichen Gaben zu nutzen.
  4. Leben, wie es Gott gefällt: Jugendliche sollen lernen, moralische Entscheidungen zu treffen, die Gott gefallen
  5. Über den Glauben reden: Jugendliche sollen lernen, wie sie ihren Freunden Jesus vorstellen können.

Dr. Bruce Wilkinson beschreibt in seinem Buch The Seven Laws of the Learner einen fünfstufigen Prozess, der dabei hilft, Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern.

  1. Zuerst beobachtest du die Person: Du achtest aufmerksam auf das, was gerade geschieht, und erkennst einen Moment, den du nutzen kannst, um bei ihr etwas zum Aufblühen zu bringen.
  2. Dann beschreibst du, was die Person getan hat – die konkrete Handlung, die erbrachte Leistung, das erreichte Ziel. Dann machst du eine kurze Pause.
  3. Im dritten Schritt teilst du mit, was das Verhalten der Person in dir ausgelöst hat – welche Gefühle oder Gedanken sie bei dir hervorgerufen hat. Wieder machst du eine Pause.
  4. Viertens malst du der Person ein positives Bild ihrer möglichen Zukunft. Du sagst ihr, wie ihre Zukunft deiner Meinung nach aussehen könnte – und machst wieder eine Pause.
  5. Zuletzt gehst du auf sie zu und stellst einen passenden, respektvollen Körperkontakt her, damit das Gesagte nicht nur den Verstand, sondern auch das Herz erreicht: Gewinne ihr Vertrauen.
Fünfstufiger Prozess nach Dr. Bruce Wilkinson

5. Jugendliche beziehungsorientiert geistlich prägen
Eine der wichtigsten Aufgaben von Leitern in der Jugendarbeit ist es, tragfähige Beziehungen aufzubauen – Beziehungen, in denen der Leiter in der Lage ist, das Leben der Jugendlichen positiv für Jesus zu beeinflussen und sie in schwierigen Zeiten zu unterstützen.

Wenn ein Jugendlicher etwas Persönliches teilt, kann der Leiter auf vier Arten reagieren:
(1) Ratschläge geben: Dies vermittelt, dass der Leiter die Antwort weiß und der Jugendliche tun muss, was er sagt – der Leiter wird dadurch als stark wahrgenommen, während der Jugendliche als schwach oder unzulänglich erscheint.
(2) Beruhigen: Dies ähnelt dem Geben von Ratschlägen und nimmt das, was der Jugendliche sagt, nicht wirklich ernst.
(3) Verstehen: Hier drückt der Leiter seinen Wunsch aus, wirklich zu verstehen. Er stellt Fragen, die zur weiteren Kommunikation einladen.
(4) Selbstoffenbarung: Während Verstehen die Jugendlichen einlädt, sich zu öffnen, geht der Leiter mit der Selbstoffenbarung noch einen Schritt weiter auf sie zu – er zeigt, dass er ähnliche Erfahrungen und Gefühle im Leben teilt.

Es gibt Momente, in denen unterschiedliche Reaktionen erforderlich sind. Jugendleiter neigen jedoch dazu, mit Ratschlägen und Beruhigungen zu reagieren, was für den Aufbau einer Beziehung am wenigsten förderlich ist.

Die vier Reaktionen lassen sich anhand einer einfachen Analogie veranschaulichen: Ein Jugendlicher treibt in einem Kanu auf einen Wasserfall zu – ohne Paddel.

  • Der Ratgeber steht am Ufer und ruft mit einem Megafon.
  • Der Beruhiger sitzt entspannt am Strand.
  • Der Versteher steht mit einem zu kurzen Seil im Wasser und kommt nicht ran.
  • Der Selbstoffenbarer bringt ein Paddel mit und sitzt mit im Kanu.

Welche Reaktion hält das Gespräch am Leben? Welche bringt die Person dazu, sich mitzuteilen? Wer sich über den Jugendlichen stellt – zum Beispiel durch Ratschläge oder Ermutigungen – wird oft Schweigen ernten. Die beste Kommunikation findet auf Augenhöhe statt, z.B. durch Verständnis oder Selbstoffenbarung.

Ein möglicher Einwand: Verliert der Leiter seine Autorität, wenn er Schwächen zeigt? Nein. Selbstoffenbarung bedeutet zwar, Schwächen zuzugeben, führt aber nicht zu Vertrauensverlust. Als Leiter sind wir »gerechtfertigte Sünder«. Im Licht zu leben bedeutet, ehrlich darüber zu sein, wer wir sind – sowohl über unsere Fehler als auch über Gottes Gnade. Wie ein Pastor, der seine Kämpfe und Siege mit anderen teilt. Oder ein Elternteil, das sich bei seinem Kind entschuldigt.

Selbstoffenbarung zeigt Menschlichkeit und schafft Identifikation. Wir begegnen den Jugendlichen nicht von oben herab, wir sitzen mit ihnen im selben Kanu. Aber wir kommen mit einem Paddel in der Hand – dem Bewusstsein, dass Jesus unsere Hoffnung für dieses Leben und für die Ewigkeit ist.

Ein Leiter, der sich in seine eigenen Stärken hüllt und seine Schwächen versteckt, wirkt anders als einer, der sich seiner Bedürfnisse und Fehler bewusst ist. Paulus schrieb: »Liebe Brüder und Schwestern! Ihr sollt wissen, dass wir in der Provinz Asia Schweres erdulden mussten. Wir waren mit unseren Kräften am Ende und hatten schon mit dem Leben abgeschlossen. Unser Tod schien unausweichlich. Aber Gott wollte, dass wir uns nicht auf uns selbst verlassen, sondern auf ihn, der die Toten zu neuem Leben erweckt.« (2. Korinther 1,8–9)

Wie gelingt Selbstoffenbarung? Indem wir in unseren eigenen Erfahrungen nach Berührungspunkten suchen – dort, wo wir als Menschen auf Augenhöhe Gefühle und Bedürfnisse teilen können.

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Dieser Artikel wurde von Mark Tittley verfasst und zuerst veröffentlicht. Deutsche Version und Arbeitsblatt von Esther Penner.

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