Yrwin Ince: Das Thema Missbrauch spielt in unserer Kultur eine große Rolle, insbesondere in der Kirche, von der #MeToo-Bewegung bis heute. Es hat einen großen Einfluss darauf, wie die Kirche mit diesem Thema umgeht. Was sind deiner Meinung nach hilfreiche und umsichtige Maßnahmen, die Pastoren und Gemeindeleiter ergreifen sollten, um Missbrauch in der Kirche zu verhindern?

Mark Vroegop: Beziehst du dich speziell auf Missbrauch in der Kirche, Missbrauch durch Seelsorger und ähnliche Situationen?

Yrwin Ince: Ja, genau.

Mark Vroegop: Wie wir wissen, kann der Begriff »Missbrauch« auf viele verschiedene Situationen angewendet werden, aber Missbrauch in der Kirche und Missbrauch von Autorität sind echte Probleme, mit denen wir uns befassen müssen. Ich denke, der erste Schritt ist, zu verstehen, worüber wir eigentlich sprechen.

Viele Pastoren, wie ich selbst, hatten keine Ausbildung oder Hintergrundwissen darüber, was Machtmissbrauch ist und wie man damit umgeht. In der Bibelschule wurde uns nicht beigebracht, welche Macht wir haben und wie wir gut damit umgehen können. Der Fokus lag mehr darauf, wie wir die Kirche vergrößern, Nationen erreichen und alles in Bewegung halten können. In dieser Eile nehmen wir manchmal Abkürzungen, und eine dieser Abkürzungen kann darin bestehen, Macht auf eine Weise einzusetzen, die es den Menschen nicht ermöglicht, sich zu entfalten.

In unserer Kirche haben wir beispielsweise unsere letzte Ältestenklausur damit verbracht, uns über geistlichen Missbrauch zu informieren. Wie sieht geistlicher Missbrauch aus? Was ist geistlicher Missbrauch und was nicht? Der Begriff wird leider auch missbraucht.

Hier sind einige praktische Maßnahmen, die wir umgesetzt haben und die wir weiter verfeinern:

  1. 360-Grad-Evaluation: Wir haben eine Richtlinie eingeführt, nach der alle Teammitglieder unseres Leitungsteams (diejenigen, die Teams beaufsichtigen) jedes Jahr eine 360-Grad-Evaluation durchlaufen. Dies bietet den Mitarbeitern eine formelle Möglichkeit, Bedenken zu äußern. Manchmal geschieht geistlicher Missbrauch, ohne dass die Führungskraft überhaupt merkt, wie sie von anderen wahrgenommen wird, und ein solches Feedback kann ihr helfen, sich zu reflektieren. In anderen Fällen weiß die Person, die sich unterdrückt fühlt, nicht, wohin sie sich wenden soll oder wie sie ihre Bedenken sicher äußern kann. Dieser Bewertungsprozess schafft einen Ort, an dem diese Bedenken geäußert werden können.
  2. Verantwortungsstrukturen: Leitende Führungskräfte sollten mit ihren Verantwortungsstrukturen vertraut sein. In meinem Fall haben wir mehrere Älteste, und ich treffe mich regelmäßig mit drei von ihnen, die Teil des Rechenschaftsteams unseres leitenden Pastors sind. Sie bewerten mich jährlich und bleiben mit den Mitarbeitern in Kontakt, um zu beobachten, was gut läuft und was nicht.
  3. Klare Wege für die Äußerung von Bedenken: Es ist von entscheidender Bedeutung, dass es klare, verständliche Wege gibt, auf denen Menschen ihre Bedenken äußern können, damit Probleme bei Bedarf angegangen werden können.
  4. Die Bedeutung deiner Worte erkennen: Als Führungskräfte ist uns manchmal nicht bewusst, wie viel Gewicht unsere Worte in Besprechungen oder Vorstandssitzungen haben. Es ist wichtig zu lernen, mehr zuzuhören und weniger zu reden und Gespräche sich entwickeln zu lassen. Daran arbeite ich noch, aber es ist wichtig zu verstehen, wie man Macht weise einsetzt, was je nach den eigenen Gaben und der Situation, in der man sich befindet, anders aussieht.

Das ist meine Sichtweise.

Ich bin neugierig, wie sich das Thema angesichts deiner jahrelangen Erfahrung im geistlichen Dienst verändert hat und welche Anpassungen du vorgenommen hast?

ℹ️
In der Schweiz hat, was Freikirchen angeht, die Evangelische Allianz eine Ombudsstelle ins Leben gerufen; in Deutschland wurde eine unabhängige, externe und weisungsfreie Clearing-Stelle durch das ICF geschaffen, um Konflikte und Machtmissbrauch in ihren Gemeinden zu untergraben. Eine Ombudsstelle oder Clearing-Stelle bietet den Menschen in Gemeinden Schutz und Sicherheit und ihnen als Kirchen ein klares Vorgehen, um schwere Konflikte und Beschwerden anzugehen. 

Yrwin Ince: Ich stimme dem, was du gerade gesagt hast, voll und ganz zu. Das beginnt schon damit, dass wir in der Bibelschule nicht darauf vorbereitet wurden – zumindest nicht vor 24 Jahren, als ich dort studierte. Vielleicht ändert sich das jetzt angesichts des kulturellen Wandels, aber damals war das nicht Teil des Lehrplans.

Einige wichtige Punkte, die du angesprochen hast, sind mir besonders aufgefallen:

  1. Rechenschaftspflicht: Sowohl Führungskräfte als auch Gemeindemitglieder müssen die Rechenschaftsstrukturen innerhalb der Kirche kennen. Wer ist wem gegenüber rechenschaftspflichtig? Du hast den 360-Grad-Überprüfungsprozess erwähnt, und das ist großartig. Es ist auch wichtig, dass die Gemeindemitglieder klar verstehen, an wen sie sich wenden können, wenn es ein Problem gibt.
  2. Externe Hilfe: Ich würde hinzufügen, dass bei Bedarf externe Unterstützung hinzugezogen werden muss. Wenn es um Machtmissbrauch geht, kann es zu Vertrauensproblemen kommen. Schulungen von Organisationen, die auf die Erkennung und Verhinderung von Missbrauch spezialisiert sind, sind unerlässlich. Es kann nicht nur eine einmalige Sache sein, wie »Wir haben vor einem Jahr eine Schulung gemacht, also ist alles in Ordnung.« Es muss eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Thema stattfinden.
  3. Unvollkommene Lösungen: Und schließlich, und das ist schwer zu akzeptieren, wird es nie eine perfekte Lösung geben. So schmerzlich es auch ist, Missbrauch – geistlicher oder anderer Art – wird in der Gemeinde Jesu bis zu seiner Wiederkunft weiterhin vorkommen. Das bedeutet nicht, dass wir nicht offen damit umgehen, aber deshalb müssen wir Rechenschaftsprozesse einführen. Diese Systeme werden uns helfen, angemessen zu reagieren, wenn Missbrauch geschieht, und den Opfern Unterstützung zu bieten.
Dies ist ein Transkript der Unterhaltung zwischen Irwyn Ince & Mark Vroegop, zuerst von The Gospel Coalition (TGC) veröffentlicht. Deutsche Version von Esther Penner. Verwendet mit Genehmigung von The Gospel Coalition.
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