Die Zukunft von Religion und Spiritualität ist ein kontroverses Thema, das seit vielen Jahren diskutiert wird. Prof. Dr. Stefan Huber vom Institut für empirische Religionsforschung der Universität Bern hat diese Frage untersucht und kommt zu einem überraschenden Ergebnis: Religiosität und Spiritualität verschwinden nicht – sie verändern sich nur.

Religiosität und Spiritualität verschwinden nicht – sie verändern sich nur. —Prof. Dr. Stefan Huber

Zwei konkurrierende Theorien: Säkularisierung und Individualisierung

In der westeuropäischen Kultur gibt es zwei Haupttheorien über die Zukunft der Religion: die Säkularisierungsthese und die Individualisierungsthese. Erstere besagt, dass die Religiosität der Menschen mit zunehmender Modernisierung abnimmt, während letztere behauptet, dass die Religiosität im Wesentlichen gleich bleibt, aber zunehmend individuell gestaltet wird.

Diese Sketchnotes wurden von Björn Lautenschläger, Pastor der Bewegung-Plus Burgdorf, als Visualisierung des Referats an der letzten Pastorentagung von Prof. Stefan Huber gezeichnet. Eine Zusammenfassung des Referats, sowie die Vortragsfolien dazu gibt es hier: www.bewegungplus.ch/die-westliche-gesellschaft-wird-immer-saekularer-mitnichten

Veränderte Formen der Religiosität und Spiritualität

Prof. Dr. Stefan Huber analysierte repräsentative Umfragen aus den letzten 60 Jahren und führte selbst einige durch, um diese Thesen zu überprüfen. Er fand heraus, dass die Vertreter der Säkularisierungsthese die Bedeutung von religiösen Institutionen überschätzen und diejenigen spirituellen Erfahrungen unterschätzen, die unabhängig von solchen Institutionen existieren. Die Form der Religiosität kann sich im Laufe der Zeit verändern, nimmt aber nicht ab.

Einige Beobachtungen, die seine These unterstützen, sind:

  1. Rückgang der Kirchenmitgliedschaft: In den letzten 50 Jahren ist die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche von 98 auf 67 Prozent gesunken. Dieser Trend dürfte sich fortsetzen, wie die Aufteilung nach Altersgruppen zeigt.
  2. Geringere Gottesdienstteilnahme: Die Teilnahme an Gottesdiensten ist ebenfalls gesunken. 2019 besuchten beispielsweise nur noch 11 Prozent der Katholiken wöchentlich einen Gottesdienst, im Vergleich zu zwei Dritteln im Jahr 1970.
  3. Glaube an Gott oder eine höhere Macht: Der Anteil der Menschen, die an Gott, eine höhere Macht oder ein »transzendentes Prinzip« glauben, ist nur leicht gesunken, von rund 83 Prozent (1968) auf rund 73 Prozent (2008).
  4. Glaube an ein Leben nach dem Tod: Der Anteil derjenigen, die an ein Leben nach dem Tod glauben, ist seit 50 Jahren etwa konstant geblieben (etwa die Hälfte).

Die Ergebnisse zeigen, dass sich Religiosität und Spiritualität nicht auflösen, sondern eher individualisieren. Dies bedeutet, dass Kirchen und religiöse Organisationen sich anpassen und Wege finden müssen, um Menschen in ihren persönlichen spirituellen Erfahrungen und Gedanken zu unterstützen und zu begleiten.

Ein inklusiverer Ansatz für unterschiedliche spirituelle Erfahrungen

Prof. Dr. Huber betont die Bedeutung, verschiedene Arten von spirituellen Erfahrungen in Betracht zu ziehen und nicht nur auf »typisch pentekostale« Erfahrungen zu beschränken. So könnten Kirchen und religiöse Organisationen beispielsweise auch Raum für Stille und Meditation schaffen, um introvertierteren Menschen entgegenzukommen.

Die Zukunft der Religion und Spiritualität: Flexibilität und Offenheit

Angesichts dieser Ergebnisse wird deutlich, dass Religion und Spiritualität keineswegs verschwinden. Vielmehr müssen Kirchen und religiöse Organisationen ihre Herangehensweise anpassen, um den veränderten Bedürfnissen und Vorstellungen der Menschen gerecht zu werden. Die Betonung von Individualität und persönlichen Erfahrungen sollte im Vordergrund stehen, um Menschen in ihrer spirituellen Suche zu unterstützen.

Einige Möglichkeiten, dies zu erreichen, sind:

  1. Förderung von Dialog und Austausch: Kirchen und Organisationen sollten den offenen Dialog über spirituelle Erfahrungen und Gedanken fördern, um ein besseres Verständnis für die unterschiedlichen Ansichten und Überzeugungen der Menschen zu ermöglichen.
  2. Schaffung von Räumen für unterschiedliche spirituelle Praktiken: Neben traditionellen Gottesdiensten können alternative Veranstaltungen wie Meditations- oder Gebetsgruppen angeboten werden, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden.
  3. Ermutigung zur individuellen spirituellen Suche: Statt nur vorgegebene Glaubenssätze und Rituale zu vermitteln, sollten Kirchen und Organisationen Menschen ermutigen, ihren eigenen spirituellen Weg zu finden und ihre persönlichen Erfahrungen zu reflektieren.
  4. Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und Glaubensgemeinschaften: Durch die Zusammenarbeit mit anderen religiösen und spirituellen Gruppen können Kirchen und Organisationen voneinander lernen und gemeinsame Werte und Ziele fördern.
Unterschiedliche Räume für die Begegnung mit Gott zu schaffen, ist wesentlich, um junge Menschen zu erreichen. Foto Alexandra Fuller

Fazit

Die Forschung von Prof. Dr. Stefan Huber zeigt, dass Religiosität und Spiritualität im Wandel begriffen sind und sich an die veränderten Bedürfnisse und Vorstellungen der Menschen anpassen müssen. Indem Kirchen und religiöse Organisationen offen für Veränderungen sind und sich auf individuelle Erfahrungen und Bedürfnisse konzentrieren, können sie weiterhin eine wichtige Rolle im Leben vieler Menschen spielen und ihre spirituelle Suche begleiten und unterstützen.

Verwendet mit Genehmigung von Prof. Dr. Stefan Huber.

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