Es ist 20.00 Uhr. Ich sitze auf meinem Sofa. Ich beginne mich langsam aufzuregen, während mein Mann in der Küche herumwuselt, obwohl der Drink, den er macht, für mich ist. Nach einigen weniger sanften Aufforderungen kommt er und lässt sich neben mich plumpsen. Ich mache den Fernseher an. Es ist einer dieser glorreichen Abende, an denen es nicht nur eine, sondern gleich zwei neue, interessante Sendungen im Fernsehen zu sehen gibt, anstatt einer Reihe von Shows, die man sich reinzieht, weil es nichts Besseres gibt.

Dann bemerke ich etwas Beunruhigendes: Das Einzige, das meiner Woche im Lockdown irgendeine Art von Struktur verleiht, ist das Fernsehprogramm. Jeder Arbeitstag ist mehr oder weniger gleich; und ohne einen bestimmten Ort aufzusuchen, oder eine bestimmte Sache zu erledigen, gibt es nichts, was das Leben in handliche Stücke teilt. Im Gegensatz zu Kindern und Teenagern, die noch täglich in die Schule gekarrt werden und denen, die tatsächlich noch zur Arbeit fahren müssen, damit sie ihren Job machen können, gibt es für mich nicht viel, dass mir mit meinem Zeitgefühl hilft. Jeder Moment verschmilzt mit dem nächsten, in einer Suppe aus Gleichartigkeit und eintöniger Existenz. Ein Montag ist so ziemlich gleich wie ein Dienstag (na ja, ihr wisst schon… außer in den aufregenden Herbsttagen, als »Das große Backen« lief).

Zu viel Zeit oder nicht genug?

Zeit fühlt sich im Lockdown komisch an. Wenn ich auf die vergangenen zwölf Monate zurückblicke, fühlt es sich an wie die längste und kürzeste Zeit meines Lebens. Einerseits hat es sich endlos angefühlt, mit tagtäglichen Einschränkungen und dem Warten darauf, dass die Dinge besser werden. Andererseits ist alles wie im Flug vergangen. Ich bin mir nicht wirklich sicher, was ich mit mir angestellt habe. Ich weiß, dass ich viel Zeit in meiner Wohnung verbracht habe und wahrscheinlich war ich mehr draußen Spazieren, als ich das vor dem Lockdown je gemacht hatte. Aber in vielerlei Hinsicht bin ich einfach nur ein Jahr älter geworden, ohne etwas vorweisen zu können. Ich baumele in einem Zeitvakuum, ohne ein Gefühl dafür zu haben, welcher Tag heute ist oder wie viele Wochen seit dem letzten Telefonat mit meiner Mutter vergangen sind. Es ist wie eine verlängerte Version der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr, nur deutlich weniger lustig und eindeutig weniger Festtagsbraten.

Wir sind auch in unserer Erfahrung im Lockdown polarisiert: Einige von uns haben jeden einzelnen Moment mit Homeschooling und Arbeit ausgefüllt, während andere von uns plötzlich einer beklemmend endlosen Zeit ausgesetzt waren. Ich gehöre zu Letzteren, zu den Glücklichen, die technisch gesehen mehr Zeit hatten. Aber einfach weniger Verpflichtungen zu haben, weniger Menschen zu sehen und weniger Orte zu besuchen, bedeutet nicht unbedingt, dass wir »mehr Zeit« erleben; vielleicht ist genau das Gegenteil der Fall.

»Wir können die Zeit nicht als Zeit erleben, wenn es nichts gibt, das uns hilft, die Zeit zu messen, nichts, das uns das Gefühl von ‘Dauer’ gibt. Dies ist eine schmerzlich treffende Darstellung meines Lebens im Lockdown.«

Willkommen in der Nicht-Zeit

Der Philosoph Byung-Chul Han beginnt sein Buch Der Duft der Zeit mit der Feststellung, dass wir uns inmitten einer Zeit-Krise befinden. Han schreibt, dass die Misere unseres postmodernen Zeitalters nicht mehr nur das Gefühl der Beschleunigung ist – dass uns das Leben in einem immer schnelleren Tempo entgleitet – sondern vielmehr, dass »uns nichts ein Zeitgefühl vermittelt«. Er fährt fort: »Das Leben ist nicht mehr eingebettet in irgendwelche Ordnungsstrukturen oder Koordinaten, die eine Zeitdauer festlegen würden«. Wir können die Zeit nicht als Zeit erleben, wenn es nichts gibt, das uns hilft, sie zu messen, um den Begriff von Han zu verwenden, nichts, das uns das Gefühl von »Dauer« gibt. Dies ist ein phänomenologisches Verständnis von Zeit. Im Gegensatz zu einer technisch-rationalistischen Sichtweise, die davon ausgeht, dass wir die Zeit abstrakt durch Zeitmessgeräte erkennen, geht es bei einer phänomenologischen Betrachtung darum, ob wir die Zeit spüren oder nicht, ob wir erleben, wie die Zeit in unserem realen Leben in der Welt vergeht oder nicht. Das Gefühl für Zeit oder Dauer zu verlieren, heißt dann, in Nicht-Zeit zu leben. Dies ist eine schmerzlich treffende Beschreibung meines Lebens im Lockdown.

Produktiv durch die Pandemie?

Vielleicht ist das der Grund, warum so viele von uns Mühe hatten, diese neu gewonnene Zeit im Lockdown produktiv zu nutzen. Wie viele andere begann auch ich den ersten Lockdown mit einer großartigen Vision davon, wie ich die erzwungene Isolation nutzen würde. Ich war fest entschlossen, alles in meinem Schnittmusterbuch zu nähen, eine Meistermalerin zu werden und den Roman, den ich schon immer schreiben wollte, zu beginnen und zu vollenden. Aber, liebe Leser, natürlich ist das alles nicht passiert. Ich kam zurecht, und wie viele von uns hielt ich es irgendwie aus. Es scheint also, dass »Zeit zu haben« nicht dasselbe ist wie in der richtigen sozialen, emotionalen, spirituellen oder mentalen Verfassung zu sein, um diese Zeit für produktive Zwecke zu nutzen und zu maximieren. In unserer letzten Forschungsarbeit, Theologische Reflexion in der Jugendarbeit, haben wir herausgefunden, dass das Haupthindernis für die theologische Reflexion der Praxis unter Mitarbeitenden in der Jugendarbeit, darin besteht, nicht genug Zeit zu haben. Ich frage mich, ob diese Jugendleiter:innen im Lockdown mehr Zeit gefunden haben, oder ob ihre Erfahrung meiner ähnelt.

Der Lockdown kann uns auch mit einem falschen Gefühl der Entschleunigung locken. Das Entfernen einiger Bausteine des Lebens mag dazu geführt haben, dass wir langsamer geworden sind. Aber Entschleunigung ist nicht die Antwort auf unseren Zeitverlust. Han sagt ganz klar, dass man »an Entschleunigung keine Dauer festmachen kann«. Entschleunigung ist daher nicht gleichbedeutend mit dem Gefühl von Zeit. Gibt es also irgendeine Hoffnung für uns in der Nicht-Zeit?

Wie können wir unser Zeitgefühl zurückgewinnen?

Laut Han besteht der einzige Weg zurück in die Zeit darin, die Kunst des »kontemplativen Innehaltens« zu beherrschen. Wenn wir innehalten – etwas, das die meisten von uns verlernt haben -, spüren wir die Dauer von Zeit. Eine instinktive Reaktion in dieser schwierigen Zeit war für viele von uns, die Jahreszeiten zu beobachten. Die sich verändernden Farben der Herbstblätter während des zweiten Lockdowns brachten unergründliche Freude in meine Seele. Der Schneefall im ganzen Land vor nicht allzu langer Zeit war wie eine Decke der Gnade, die unsere Stimmung hob und uns daran erinnerte, dass das Leben gut ist und wieder gut sein wird. Die Jahreszeitenwechsel haben uns das Gefühl gegeben, dass wir in der Zeit verwurzelt sind und nicht in einer Leere der Zeitlosigkeit schweben. Es ist ein großer Trost, dass die natürliche Welt weitergeht, egal was für schlimme Dinge in der Welt passieren. Die Jahreszeiten geben uns die Gewissheit, dass die Zeit weiterläuft, dass die Welt sich weiterdreht und dass es eine Zeit geben wird, in der es keinen Lockdown mehr gibt.
Aber egal, Freunde, ich gehe jetzt besser. Pooch Perfect fängt gleich an…

Beziehungsfragen

  • Wenn du in den Januar 2020 zurückreisen könntest und dir selber einen Tipp für die Corona-Pandemie geben könntest, was würdest du deinem Vergangenheits-Ich raten?
Dieser Artikel wurde von Dr. Phoebe Hill verfasst und zuerst von Youthscape veröffentlicht. Deutsche Version von Olivia Felber.

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