Im treffend betitelten Werk The Dictionary of Obscure Sorrows widmet sich John Koenig der Aufgabe, unbenannten Gefühlen eine Stimme zu geben. Ein Beispiel dafür ist anemoia: die Sehnsucht nach einer Zeit oder einem Ort, die man nie selbst erlebt hat. Der Begriff leitet sich vom griechischen anemosis ab, das einen Baum beschreibt, der ein Leben lang vom Wind gepeitscht wurde und sich dadurch dauerhaft nach hinten gebogen hat.

Weitere Teile der »Smartphone-Guide für Eltern« Serie:
#1 Wann ist der richtige Zeitpunkt für das erste Smartphone? (MRJ)
#2 Ein Balanceakt zwischen Schutz und Vertrauen (MRJ)
#3 Wann und wie oft? Perspektiven von Eltern, Jugendlichen und Experten (MRJ)
#4 Warum Kinder die echte Welt brauchen (MRJ)
#5 Der stille Kampf junger Mädchen (MRJ)
#6 Warum träumen Teenager von einer Kindheit ohne Smartphones? (MRJ)

Kürzlich sprach Axis mit drei Jugendlichen über ihre Erfahrungen mit Smartphones. Abschließend stellten wir eine einfache Frage: Wenn du die Zeit zurückdrehen und eine Kindheit ohne Smartphones wählen könntest, würdest du es tun? Zwei von drei antworteten ohne Zögern mit Ja.

Auch wenn diese Ansichten nicht die gesamte Generation repräsentieren, stehen diese Jugendlichen mit ihrer Sehnsucht nicht allein. Eine wachsende Nischenkultur im Internet befeuert diese Anemoia. Videos über das Highschool-Leben der 90er erzielen in sozialen Netzwerken unerwarteten Zuspruch. Vinyl feiert dank Künstlern wie Taylor Swift ein Comeback mit den höchsten Verkaufszahlen seit Jahrzehnten. Polaroids, Einwegkameras und Apps wie »Lapse« greifen diese nostalgischen Trends auf. Selbst das Klapphandy kehrt zurück – wie ein Relikt der 2000er, das plötzlich wieder en vogue ist.

Diese Form der Nostalgie ist alles andere als neu. Vor wenigen Jahren dominierte Popmusik, die klang, als wäre sie direkt aus den 80ern importiert worden. Heute feiern Baggy-Jeans und Grunge-Musik der 90er ein Revival. Wie Salomo im Buch Prediger treffend bemerkt:

Was gewesen ist, wird wieder sein; was man getan hat, wird man wieder tun; und nichts ist wirklich neu unter der Sonne. Wohl sagt man: »Sieh her, da ist etwas neu!« Doch es war längst schon einmal da in den Zeiten vor uns. – Prediger 1,9-10 (NeÜ) 

Für Eltern mag es seltsam wirken, wenn Jugendliche eine Sehnsucht nach Zeiten äußern, die sie selbst erlebt haben – etwa die 1990er-Jahre. Diese waren jedoch alles andere als perfekt. Auch wir kämpften mit Herausforderungen und blickten nostalgisch auf frühere Epochen zurück.

Denken wir an die Weihnachtsmusik, die jedes Jahr aufs Neue erklingt – von Nat King Coles »The Christmas Song« bis zu Mariah Careys »All I Want for Christmas Is You«. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie wecken Erinnerungen an eine Zeit, in der Weihnachten noch Zauber und Wunder bedeutete. Es ist der Versuch, eine Kindheitserfahrung wieder lebendig zu machen.

Und genau darin liegt die Besonderheit der Anemoia heutiger Jugendlicher:

Sie sehnen sich nach einer Kindheit, die sie nie erlebt haben – nach einer Zeit, die sie nur aus Erzählungen oder Vorstellungen kennen. Eine Nostalgie für etwas, das für sie selbst nie real war.

Man könnte sagen, der Ursprung dieses Gefühls liegt in jenem Objekt, das das Zentrum des gesamten Themas bildet – und wohl die bedeutendste Innovation der Kommunikation seit dem Buchdruck darstellt: das Smartphone.

Es ist leicht zu übersehen, dass das erste iPhone erst vor 17 Jahren auf den Markt kam. Generation Z und Generation Alpha sind die ersten, die mit Smartphones als festen Begleitern ihrer gesamten Kindheit aufgewachsen sind. Eine Welt ohne sie haben sie nie erlebt – sie sind geprägt von einer Technologie, die ihre Zeit tiefgreifend verändert hat.

Um diesen Gedanken greifbar zu machen, lohnt ein Blick auf das Spiel Subway Surfers.

Subway Surfers ist ein typisches Handyspiel aus dem Genre der »Endless Runner«. Der Spieler rennt unaufhörlich vorwärts, springt, weicht Hindernissen aus und rutscht – bis er irgendwann scheitert. Ähnlich wie die Arcade-Spiele der 80er-Jahre steigert sich der Schwierigkeitsgrad stetig, doch ein echtes »Gewinnen« ist nicht möglich. Punkte und Verbesserungen sind das einzige Ziel.

Wenn ein Online-Video nicht spannend genug ist, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer in den entscheidenden ersten zwei Sekunden zu fesseln, greifen manche Content Creators zu einem einfachen Trick: Sie unterlegen das »langweilige« Video mit Subway Surfers-Gameplay. Die rasante Action soll die Aufmerksamkeit halten und ein Weiterscrollen verhindern.

Für die nächste Generation

Mit Dauerauftrag oder Einmalspende hilfst du uns, wertvolle Ressourcen für Familien und Jugendarbeit zu ermöglichen.

Jetzt Wunschbetrag spenden

Die Kombination aus Subway Surfers-Clips und Informationsvideos hat sich zu einem Meme entwickelt, das die schwindende Aufmerksamkeitsspanne der Generation Alpha und der »Zoomer« humorvoll aufs Korn nimmt. Doch bei aller Kritik an einer Welt voller Ablenkungen sollte man nicht vergessen, dass diese Geräte oft schon jungen Kindern von Erwachsenen in die Hand gedrückt wurden, die es nicht besser wussten. Teenager tragen keine Schuld daran, in einer Welt aufzuwachsen, die ihre Konzentrationsfähigkeit als so beeinträchtigt wahrnimmt, dass sie zur Grundlage von Memes wird. Doch die entscheidende Frage lautet: Geht es hier nur um ihre Aufmerksamkeitsspanne – oder haben sie vielleicht noch viel mehr verloren?

Teenager haben nie eine Welt ohne soziale Medien erlebt, die Freundschaften durch Gamification beeinflussen und neu definieren. Sie waren kaum je wirklich frei, unerreichbar zu sein, und kennen keine Realität, in der sie nicht ständig Gefahr laufen, gefilmt zu werden oder ihren Standort teilen zu müssen.

Sie haben vermutlich auch nie die Anziehungskraft und das Geheimnis der Liebe erfahren, unbeeinflusst von der allgegenwärtigen Verfügbarkeit und dem prägenden Einfluss von Pornografie.

Es ist ein Verlust, den sie nicht nur kennen, sondern auch spüren. Memes über Subway Surfers und die kritische Haltung der Generation Z gegenüber »iPad-Kids« offenbaren ein tiefes, selbstkritisches Bewusstsein für ihre eigenen Gewohnheiten. Wie die vom Wind gebogenen Bäume – wie anemosis – hat der unaufhörliche Wind der Technologie den Blick dieser Jugendlichen nach hinten, in eine idealisierte Vergangenheit, gelenkt.

Eltern und vertrauenswürdige Erwachsene können dieses Gefühl validieren – und es als Gelegenheit zur Jüngerschaft nutzen. Gebt euren Teenagern Raum, ihre Handys bewusst wegzulegen, sich abzukoppeln und für Momente zu leben, als wären wir 30 Jahre zurückversetzt. Sicher, wir alle hängen ein Stück weit an unseren Smartphones, doch das bedeutet nicht, dass sie nicht jeden Abend zur Seite gelegt werden können – sei es in der Jugendgruppe, beim Abendessen oder einfach an einem gewöhnlichen Dienstagabend (Tech-Free Tuesday lässt grüßen). Solche kleinen Schritte können den Unterschied machen.

Es liegt an uns, der nächsten Generation eine gesunde Beziehung zur Technologie vorzuleben, während wir sie ermutigen, auch ihre eigenen Beziehungen achtsam zu gestalten. Zwar sehnen sich sowohl Teenager als auch ihre Eltern manchmal nach einer einfacheren Vergangenheit, doch unsere Herausforderung – und Chance – liegt im Hier und Jetzt.

Zurück zu Prediger: Salomo bietet keine Regel und kein Versprechen, aber eine klare Denkweise: Sag nicht: »Wie kommt es nur, dass früher alles besser war als jetzt?«, denn ein Weiser fragt nicht so. (Prediger 7,10 – NeÜ)

Es gibt nichts Neues unter der Sonne, nicht mal das Verlangen, in einer anderen Zeit zu leben.

Wir haben die Wahl: Entweder sitzen wir untätig da und sehnen uns nach einer Welt, die es nicht mehr gibt, oder wir stehen auf und gestalten die Welt, in der wir jetzt leben, so gut wie möglich – für die nächste Generation.

Jetzt kostenlos weiterlesen

Wir geben dir Know-how und Werkzeuge, um die nächste Generation im Glauben zu begleiten.

Du hast bereits einen Account?